Politische Bildung ist aktuell. Das zeigt sich etwa an der Ankündigung Bayerns, mit der Rückkehr zum G9 die politische Bildung in den Schulen zu verstärken.[1] Zurzeit wird politische Bildung auch als mögliches Mittel gegen den aufsteigenden Populismus bezeichnet.[2][3] Mannheims Bürgermeister etwa fordert, die EU bräuchte mehr politische Bildung.[4]
Wie lernen Schüler zu Politik und speziell zur Demokratie? Wie kommt man an die Kinder und Jugendlichen heutzutage heran? Wie kann das Interesse für Politik geweckt werden?
In der Diskussion zu diesen Themen wird häufig der Beutelsbacher Konsens erwähnt. Ein Beispiel ist die Diskussion um einen Film der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. In dem 360°-Film nimmt der Zuschauer die Rolle eines Häftlings eines Stasi-Gefängnisses ein. Kritisiert wurde hier u.a. ein Verstoß gegen das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses. [5]
Was genau ist dieser Beutelsbacher Konsens, der die politische Bildungsarbeit seit Jahrzehnten prägt?
Der Beutelsbacher Konsens: Entstehung
Vor dem Hintergrund der 68er Bewegung kam es in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu heftigen Diskussionen zu den Zielen und den Lehrplänen der politischen Bildung. Auf der einen Seite standen die Linken, mit den von der SPD regierten Bundesländern. Auf der anderen Seite standen dagegen die Konservativen, mit den von der CDU/CSU regierten Bundesländern. [6]
Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg lud 1976 Vertreter der Politikdidaktik nach Beutelsbach ein. Siegfried Schiele, damals Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg beauftragte seinen Mitarbeiter Wehling, die Diskussionen zu einem Minimalkonsens der Didaktiker zusammenzufassen. In einer Publikation zur Tagung wurde dieser Beitrag von Hans-Georg Wehling veröffentlicht. Wichtig ist diese Entstehung des Beutelsbacher Konsens: Er wurde nicht von den Beteiligten der Tagung diskutiert und beschlossen, sondern entstand aus den Beobachtungen Hans-Georg Wehlings heraus. [7]
Mit den Jahren und dem wiederholten Aufgreifen der Publikation und des Beitrags von Wehling wurde Beutelsbacher Konsens zu einem wesentlichen Element der politischen Bildung.[8]
Heute nennt z.B. die bpb, die Bundeszentrale für politische Bildung, den Beutelsbacher Konsens als Grundsatz für ihre Arbeit. [9] Der Beutelsbacher Konsens wird auch heute noch diskutiert, etwa nötige Anpassungen an den Wandel in der Gesellschaft. Dies wird etwa an dem Sammelwerk „Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?“ der Bundeszentrale für politische Bildung deutlich. In 26 Beiträgen werden aktuelle Kontroversen in verschiedenen Bereichen der politischen Bildung behandelt. [10]
Inhalt des Beutelsbacher Konsens
Der Beutelsbacher Konsens enthält drei Grundsätze. Im Folgenden der Beutelsbacher Konsens im Wortlaut:
„1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der — rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich — etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer — erhobene Vorwurf einer ‚Rückkehr zur Formalität‘, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal‑, sondern nach einem Minimalkonsens geht.“[11]
Das Kontroversitätsgebot in der schulischen Bildung
Aus dem Kontroversitätsgebot ergeben sich mehrere Fragen:
Bedeutet das Kontroversitätsgebot ein Neutralitätsgebot für die Lehrkräfte? Darf eine Lehrkraft im Politikunterricht in der Schule ihre Meinung äußern?
Was spricht für ein Neutralitätsgebot?
Der Lehrende könnte einen Einfluss auf die Schüler haben, die sich wegen besseren Noten anpassen oder die Argumentation des Lehrers zumindest übernehmen. Die Abhängigkeit vom Lehrer kann die Meinungsäußerung der Schüler bestimmen. [12]
Was spricht gegen ein Neutralitätsgebot?
Der Beutelsbacher Konsens verbietet den Lehrenden nicht, ihre Meinung zu äußern. Wesentlich ist nur, dass sie es den Lernenden nicht aufdrängen. Der Lehrer als Vorbild zeigt Meinungslosigkeit, anstatt als Vorbild die Meinungsäußerung vorzuleben. Außerdem ist ein Argument, dass die Lehrperson durch das Einbringen eigener Meinungen und der Diskussion mit den Schülern das Interesse der Schüler an politischen Themen fördern kann. [13]
Meine Meinung
Kinder und Jugendliche lernen nicht nur in der Schule zu Politik. Sie lernen aus Medien, von Freunden, anderen Erwachsenen, wie den Eltern und so weiter. Vielleicht ist das nicht immer konkretes Lernen zu Politik, z.B. zu demokratischen Strukturen. Jedoch bekommen sie auch Meinungen anderer zu Politikinhalten oder Politikern mit. Sie werden auch außerhalb der Schule Einflüssen auf ihre politische Meinung ausgesetzt.
Ich bin der Meinung, dass Lehrende keinem Neutralitätsgebot unterliegen sollten.
Die Auseinandersetzung in der Schule fördert die Argumentationsstärke der Kinder und Jugendlichen. Der Lehrende kann andere Sichtweisen, etwa einer anderen Generation, in die Diskussion einbringen. Die Schüler sollen zu mündigen Personen erzogen werden. Daher ist es wichtig, dass sie mit gegenläufigen Meinungen auch von Autoritätspersonen konfrontiert werden. Sie lernen, ihre politische Meinung auch gegenüber diesen Personen zu vertreten. Dafür müssen natürlich Grundsätze wie gegenseitiger Respekt, auch vonseiten des Lehrers für die Meinung der Schüler, gelten.
Die Wichtigkeit der Vorbildfunktion unterstütze ich ebenfalls. Natürlich ist fraglich, inwiefern der Lehrende unter den Schülern als Vorbild gilt. Er/Sie kann zumindest versuchen, als Vorbild für die Meinungsäußerung zu dienen. Vorgelebt wird, eine offene und respektvolle Diskussion zu führen und diese Grundsätze auch fortzuführen, wenn die persönliche Meinung des Lehrenden kritisiert wird.
Dies wappnet die Schüler mit Fähigkeiten, die sie auch im Umgang mit anderen Menschen in politischen Diskussionen außerhalb der Schule verwenden können.
Ich sage nicht, dass in jeder Diskussion der Lehrende seine Meinung äußern sollte und die Schüler darüber diskutieren sollen. Jedoch kann je nach derzeitiger Ausgestaltung des Unterrichts, den Inhalten und der Klassendynamik eine Meinungsäußerung des Lehrers die Diskussion spannender machen. Die Dynamik der Diskussion kann das Interesse der Schüler an Politik wecken.
Grenzen des Kontroversitätsgebots
Was sind die Grenzen des Kontroversitätsgebots? Auch hier ergeben sich weitere Diskussionspunkte.
Das Kontroversitätsgebot sieht es kritisch, wenn „Standpunkte unter den Tisch fallen“. Es sollten also alle Standpunkte zu einem politischen Thema behandelt werden? Dies ist nicht möglich. Meist ist die Anzahl verschiedener Standpunkte schlichtweg zu groß. Wie sollen die behandelten Standpunkte ausgewählt werden? Und Themen, die im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs gar nicht vorkommen? [14]
Siegfried Schiele hat als Richtlinie für die Aufnahme von relevanten Themen vorgeschlagen, sich an den Konfliktlinien in den Parlamenten zu orientieren. In den Länderparlamenten, dem Bundestag und dem Europäischen Parlament seien die unterschiedlichen Positionen einfach zu identifizieren. Aber er meint darüber hinaus, auch außerparlamentarische Positionen sollten berücksichtigt werden.[15] Er gibt damit keine Empfehlung, wie die außerparlamentarischen Positionen auszuwählen sind.
Das Kontroversitätsgebot wirft eine weitere Frage auf: Wo liegen die Grenzen der im Unterricht zu akzeptierenden Meinungen? Wie sieht es mit antidemokratischen Äußerungen aus? Hier wird einerseits das Grundgesetz vorgeschlagen. Kritisiert wird an diesem Vorschlag, dass nicht jede Kritik am Grundgesetz inakzeptabel für den Unterricht ist. Schließlich unterliegt auch das Grundgesetz Änderungen. Wenn die Parlamentarier einzelne Artikel kritisieren, muss das natürlich auch für Schüler im Unterricht möglich sein. Als Beispiel wird folgendes genannt: Ein Schüler fordert, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in das Diskriminierungsverbot aufzunehmen.[16]
Diese Forderung sollte im Rahmen des Unterrichts möglich sein und zur Diskussion stehen können. Daher wird das Grundgesetz als ungeeignet gesehen, die Grenzen der zu akzeptierenden Meinungen zu bilden. Vorgeschlagen wird stattdessen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Diese hat das Bundesverfassungsgericht 1952 im Rahmen eines Urteils definiert.[17]
die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition” (BVerfGE 2,1 ff.)
Es heißt darüber hinaus: Die Lehrenden der politischen Bildung sollten „Position für die Menschenwürde […] beziehen“[18].
Zum Weiter- und Nachlesen
Online Ressourcen
- Kontroversen um das Kontroversitätsgebot bei der bpb
- Eine Diskussion um den dritten Satz des Kontroversitätsgebots
Buch
Quellen:
[1] Günther, Anna. 15.05.2017. Neue Lehrpläne: Kampf um die Stunden im G 9. http://www.sueddeutsche.de/bayern/gymnasium-neue-lehrplaene-kampf-um-die-stunden-im-g‑1.3504468. Zugegriffen: 19.05.2017.
[2] Sadigh, Parvin. 02.02.2017. Schule gegen Populismus. http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2017–01/politische-bildung-schule-populismus. Zugegriffen: 19.05.2017.
[3] Knetsch, Gabriele. 25.04.2017. Politische Bildung: Wie lernen Schüler Demokratie? http://www.br.de/radio/bayern2/gesellschaft/notizbuch/politische-bildung-schule-demokratie-100.html. Zugegriffen: 19.05.2017.
[4] Matthews, Janie. 08.03.2017. Cities4Europe: Ein Schlachtplan gegen Populismus. http://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/cities4europe-ein-schlachtplan-gegen-populismus/. Zugegriffen: 19.05.2017.
[5] Van Laak, Claudia. 17.05.2017. Virtual-Reality im Stasi-Gefängnis — “Runter mit der Hose!”. http://www.deutschlandfunkkultur.de/virtual-reality-im-stasi-gefaengnis-runter-mit-der-hose.976.de.html?dram:article_id=386375. Zugegriffen: 19.05.2017.
[6] Reheis, Fritz. 2016. Politische Bildung. Eine kritische Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S.37–38.
[7] Widmaier, Benedikt, und Peter Zorn (Hrsg.). 2016. Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 10.
[8] Widmaier, Benedikt, und Peter Zorn (Hrsg.). 2016. Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 10.
[9] Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. 2011. Beutelsbacher Konsens. http://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens. Zugegriffen: 18.05.2017.
[10] Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. 2016. Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?. http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/236903/brauchen-wir-den-beutelsbacher-konsens. Zugegriffen: 19.05.2017.
[11] Wehling, Hans-Georg. 1977. Konsens à la Beutelsbach. In Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Hrsg. Siegfried Schiele, 173–184. Stuttgart: Klett. S. 179–180.
[12] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.
[13] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.
[14] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.
[15] Schiele, Siegfried. 1996. Der Beutelsbacher Konsens kommt in die Jahre. In Reicht der Beutelbacher Konsens?, Hrsg. Siegfried Schiele, und Herbert Schneider, 1–13: Wochenschau Verlag.
[16] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.
[17] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.
[18] Pohl, Kerstin. 19.03.2015. Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all. Zugegriffen: 18.05.2017.